
Jetzt liege ich hier. Auf dem Sofa. In einer Bar. Im Bauch dieser riesigen Stadt, die ich so sehr liebe und so sehr hasse. Sie hat mich verschluckt, mich einfach einverleibt wie ein gigantischer Wal. Mit Automatikgetriebe flugs reingeschwommen in das dichte Adergeflecht aus Straßen und Häuserschluchten. Maul auf und drinnen war ich.
Und Andy Warhol lächelt mich milde von der Wand hinter der Bar herab an.
Berlin – es wird nicht müde, mir unablässig Bilder und Eindrücke in die Seele zu stapeln. Mehr und mehr und mehr. Wie eine Peitsche drischt der Lärm, der Trubel sie in mich ein. Bis ich innerlich aufschreie, weil mir das Blut schon aus der Nase rinnt vom Überangebot, das von allen Seiten auf mich eindrängt. Vergangenheit trifft Gegenwart. Erlebtes spürt Neues durch meine Gedanken rauschen. Und immer wieder verirren sich vereinzelte Erinnerungen mit hinein an eine einst außergewöhnliche Liebe. Sie ist mit dieser Stadt so untrennbar verbunden, dass ich mir Berlin nicht ohne sie denken kann. Wie ein heimlicher Attentäter steigt ihr Gesicht samt ihren grünen Augen und ihren bezaubernd geschwungenen Lippen aus meinem Inneren auf. Im Aktenkoffer eine platzende Bombe aus Tausenden Gefühlen – so wunderbar, so berührend, dass sie auch nach so vielen Jahren ihre Kraft nicht verloren haben. Dabei bist du längst nicht mehr wahr. Unsere Geschichte dem Wandel der Zeit unterworfen, ist zu einem bonbonfarbenen Märchen mutiert. Und trotzdem bewegst du mich noch immer. Bestimmst noch immer meine Art zu denken und zu fühlen. Deine Positive mischen sich mit dem Dreck der Stadt, verwaschen sich mit ihr, werden eins mit ihr. Ein kunterbuntes Mosaik eines vergangenen Lebens.
Welten prallen aufeinander, existieren nebeneinander. Ignoranz und Gleichgültigkeit sind die Wegweiser für jeden Großstädterschritt durch sie hindurch.
Da lädt Udo Walz‘ neue Fönbar ein, sich für sage und schreibe läppische 30 Euro, die Haare waschen, fönen und vom Meister höchst persönlich legen zu lassen. Ein wahres Schnäppchen. Schreit mir die auf Hochglanz polierte Werbewand ins Gesicht. Gleich nebenan kampieren Menschen in Zelten und auf Isomatten vor der leuchtend hellen und makellos sauberen Apfelwelt, nur um zu den ersten zu gehören, die eines der brandneuen Plastik-Äpfelchen für Arme – wie sie es nennen – nach Hause zu tragen. Und es kümmert niemanden, dass nur ein paar Meter weiter ein Penner ohne Schuhe um einen Cheeseburger bittet.
Verkehrte Welt. Denke ich nur. Oberflächlich. Egoman. Kalt.
Das Leben kann so hässlich sein.
Lounge-Klänge wabern in meine von so vielen Worten und noch mehr Geräuschen schmerzenden Ohren. Ich schalte ab. Gehe auf die Suche nach Ruhe. Abwesend anwesend. Wäre da nicht dieses stete, kaum wahrnehmbare Rauschen, das es nur in Großstädten wie Berlin gibt. Es ist wie das Weiße Rauschen aus dem All. Grundtenor eines fremdgesteuerten Daseins. Immer da, immer präsent, immer spürbar für den, der noch nicht stumpf geworden, noch empfindsam ist.
Und Andy Warhol schaut mir aus überdimensional großen Augen von der Barwand herab direkt und ohne Scham in meine Gedanken. Meine Einsamkeit. Die mir inmitten all der Millionen Menschen fast unerträglich wird.
Dabei wünsche ich mir nur jemanden, mit dem ich mich verbunden fühle, der das Leben auf die gleiche Art wahrnimmt wie ich, der mich zu halten vermag. Denn ich vermisse. Aber nicht das, was ich zu vermissen glaubte. Nicht das Ungekannte, Unvertraute und darum so Verführerische. Nicht die faszinierende, neue Welt einer wundervollen Persönlichkeit, in deren Gegenwart ich noch einen Tag zuvor kaum atmen konnte, deren Blicke mir das Herz bis zum Hals schlagen ließen. Längst vergangene Erhardtsche Gurkengeplauder zu nächtlicher Stunde an nächtlichen Stränden sind es – unbeschwert ausgeplaudert, doch vor Zeiten in die traurige Riege der Bücher ohne Happy End eingereiht -, die in meinem Kopf nachklingen, mich aus meinem sicher geglaubten Konzept bringen, mein Herz gefangen halten. Welch irrige Hoffnung anzunehmen, das alles hinter mir gelassen zu haben. Es ist, als wirke die Stadt mit ihrem Lärm, ihrem wichtigtuerischen Getöse wie ein Filter, der aussiebt, was unwichtig scheint. Und nur übrig lässt, was mein Herz wirklich berührt und mich auf meinem Weg zu mir selbst voranbringt. Ich lasse sie zu, die Bilder, die mir Angst machen, die Gefühle und Erinnerungen, stelle mich ihnen, um sie eines Tages akzeptieren und vielleicht sogar schätzen zu können. Ganz egal, wie weh es tut – das Aushalten, das Kämpfen, das Weiterschwimmen.
Und Andy Warhol blinzelt mir verschmitzt zu, als erahne er meine Welt, als wisse er um meine Traurigkeit, mein Ringen. Oder ist es vielleicht nur der Wein, der meine Sehnsucht zum Narren hält?
Kommentar verfassen