
Es geht los!
Mitten in der Nacht hat er angefangen, der Sturm. Hohe, weiße Wogen, die uns immer wieder überholen und die Norönna ordentlich in Bewegung bringen. Ich schlinge mir die Decke um den Körper und starre gebannt in das von der Norröna beleuchtete Dunkel vor meinem Fenster. Es weht gewaltig und die mächtigen Wellen heben das Schiff auf und nieder. Obwohl sich meine Kabine recht weit oben, auf dem 5. Deck befindet, kann ich das Zittern spüren, wenn die Wassermassen unter dem Schiff hindurch rollen. Ich bin absolut fasziniert!
Das Surren der Maschinen, das ich bislang kaum wahrgenommen habe, ist jetzt deutlich zu hören. Sie müssen ordentlich arbeiten. Werden wir angehoben, knacken die Wandverkleidungen in meiner Kabine. Irgendwann wiegt mich das Auf und Ab in den Schlaf.
Auch wenn es zum Aufstehen nicht mehr ganz so stürmisch ist, ist mein morgendliches Yoga-Ritual trotz Meerblicks eine Herausforderung. Der Baum und andere einbeinige Verbiegeaktionen fallen flach.
Ich kann es kaum erwarten, will das Meer unbedingt spüren. Sonst hasse ich es, aber heute stecke ich mein Langarmshirt tief in die knallig rote Thermohose. Denn ich ahne, dass es draußen schattig wird.
Der Blick rundum: Meer, Meer, Meer. Nirgends Land in Sicht. Der Wind ist ein büschen pustig. Das Wasser hinten am Heck ist eisblau.
Es ist herrlich, dass außer unserer Gruppe höchstens 50 oder 60 weitere Passagiere an Bord zu sein scheinen. Platz wäre hier für knapp 1500 Menschen. Eines der Bordrestaurants wird unser ständiger Treffpunkt.

Käpt’n Stefan Schmidt erzählt uns im Interview mit Ankerherz-Chef Stefan ein paar Schwänke aus seinem Leben; wie es bei ihm früher so war beim Anheuern auf einem Schiff, von den Versprechungen, die oft gemacht, aber selten gehalten wurden, vom Toiletten-sauber-machen als Schiffsjunge. Jeden Tag sollen wir ihn so ein wenig besser kennen lernen. Schmidt hat in seiner Laufbahn zum Kapitän alles durchgemacht. Dabei wollte er nach der ersten Ohrfeige von seinem Bootsmann die Seefahrerei eigentlich an den Nagel hängen und Drogist werden. Seine Mutter hatte ihn jedoch überredet, noch so lange damit zu warten, bis er die höchste Position auf einem Schiff bekommen hätte. Das war dann irgendwann der Kapitänsrang. Dass er bei so viel Aberglauben soweit gekommen ist, hat er wohl auch seinem 1700 Jahre alten Inka-Glücksbringer vom Grabräuber-Onkel zu verdanken. Glaubt er.
Ankerherz-Chef Stefan liest zwischen den kleinen Lebensanekdoten von Käpt’n Stefan Lebensanekdoten anderer Kapitäne vor. Von merkwürdigen Schiffsköchen, die für ihr Hühnchen-Curry die Ratten auf dem Schiff einfingen, von Akt-Tattoos, die mancher Matrose sich quer auf die Stirn tätowieren ließ oder von ungeöffneten Scotch-Flaschen, die man auf See über Bord gehen ließ, um Neptun zu besänftigen.

Als nächstes steht „Zoff im Zoo“ auf dem Plan. So viel gelacht bei einem Kartenspiel habe ich selten. Ben O.‘s Erklärungen dazu sind druckreif und würden wahrscheinlich kapitelmäßig der Bibel Konkurrenz machen können. Thore, Andrea, Birgit und ich hängen an seinen gegenderten Begrifflichkeiten. Ab heute heißen nämlich Barsche zoologisch Barschende, Löwen zoologisch Löwende und Krokodile… sind einfach Taschentiere. So schnell wie wir ist während eines Zoo-Spiels wahrscheinlich noch nie jemand vom Igel auf das Penis-Museum in Reykjavik gekommen. Ich glaube, der zunehmende Seegang verrückt die Gedankengänge ein wenig in skurrile Bahnen.

Denn derweil wir fröhlich Karten tauschen, nimmt der Seegang zu. Die Wellen kommen jetzt regelmäßig von vorn und lassen die Norröna immer mal wieder dumpf mit dem Rumpf auf die Wasseroberfläche aufklatschen. Das Dröhnen und Zittern vibriert durch das gesamte Schiff, enthebt Herz und Hirn für einen schwerelosen Moment der Schwerkraft.
Ich muss raus, das Meer spüren. Ich könnte Stunden oben an Deck stehen und über das Wasser schauen. Es wird nicht langweilig. Hinten zieht ein Regengebiet vorbei. Ein Tanker schaukelt an uns vorüber. Ich glaube, der wollte mal „Moin“ sagen. Der Wind nimmt stetig zu. Froh, dick eingepackt zu sein, muss ich mich mittlerweile an der Reeling ordentlich festhalten, um nicht über das ganze Deck geweht zu werden. Atmen ist kaum noch möglich. Wird ohnehin überbewertet. Aber es ist Hammer!!! Glück pulsiert durch jede meiner Zellen. Hier, genau hier, mitten im Sturm will ich sein.

Der Himmel reißt auf und die Sonne blinzelt durch die Wolken. Eine unfassbar schöne Stimmung liegt über dem Tosen des Meeres. An Backbord ziehen die Shetlandinseln an uns vorbei – die Einfahrt in den Nordatlantik. Unsere halbe Gruppe drückt sich auf dem obersten Deck an die windabgewandte Schiffswand und wagt sich alle Augenblicke mal ein paar Schritte hinaus aufs stürmische Deck bis vorn an die Reeling. Wir sind die einzigen, die dieses einzigartige Schauspiel genießen. Was für ein Naturerlebnis! Was für ein Luxus! Nirgendwo anders wäre ein solches Abenteuer möglich.

Laut Thore, der auf Helgoland das Ankerherz-Radio betreibt, haben wir hier oben an Deck 8 locker Windstärke 11. Mich hebt der Wind bei jedem Schritt kurz an und ich muss alle Kraft aufbringen, mit den Beinen wieder auf den Boden zu kommen. Adrenalin, Glückshormone, pure Freude – alles schießt auf einmal durch meine Adern. Das Grinsen auf unseren Gesichtern ist so breit, dass man annehmen könnte, wir hätten allesamt irgendetwas eingeworfen. Mitnichten. Manche Erlebnisse sind einfach so unfassbar schön, dass man sie erlebt haben muss, um das, was sie auslösen, zu verstehen. Denn mit Worten sind sie nicht einmal annähernd zu beschreiben.

Dieses Erlebnis zählt zu einem der schönsten und aufregendsten in meinem Leben! Selten habe ich das Leben so sehr durch meine Adern fließen gespürt, wie in diesen Momenten auf der Norröna.
Darauf gibt‘s erstmal einen Brennivín. Ein paar englische und irische Seemannslieder folgen. Und alles singt zum Schifferklavier von Benno O. mit. Wer sagt’s denn, dass nur die Färöer und Isländer singen können. Von denen schauen so manche neugierig durch die Restauranttür und staunen.

Dass Ankerherz-Chef Stefan eine sympathisch weiche Seite hat, zeigt er uns beim Vorlesen und Erzählen seiner berührendsten Interviews. Das geht unter die Haut.
Je später der Abend, umso mehr zeigt der Nordatlantik sein wahres Gesicht. Er hebt die Norönna mit Leichtigkeit in die Höhe und lässt sie mit Wucht auf die Wasseroberfläche krachen. Das ganze Schiff dröhnt und wackelt. Und der Schall hallt an den stählernen Bordwänden wider. Ich habe das Gefühl jedes Mal kurz abzuheben und für den Bruchteil eines Augenblicks in der Luft zu schweben, bevor ich wieder auf dem Boden lande. Die Aufschläge auf dem Wasser häufen sich zunehmend. Beim Toilettengang muss ich mich mittlerweile festhalten. Das Laufen durch die Gänge artet in Arbeit aus. Wir torkeln, als wären wir sturzbetrunken. Ich nehme vorsichtshalber ein Kaugummi gegen Seekrankheit. Denn meinem Magen scheint der frenquentielle Schwebezustand doch nicht ganz geheuer. Ich hoffe, es hilft. Das wird sicher eine spannende Nacht.
Sleep tight and don’t let the bedbugs bite.
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[Der Text enthält Werbung aufgrund von Namensnennung! Alle Anregungen und Vorschläge, Empfehlungen und Bewertungen sind jedoch meine eigene Meinung und mein ganz persönlicher Geschmack, der gerne geteilt, aber auch anders empfunden werden kann.]
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