Es ist ein Bild vollkommener Ruhe, wie sie so dastehen – die fünf mächtigen Elefantenkühe. Und ihnen gegenüber die kleine, alte Frau. Obwohl sie kaum unterschiedlicher sein könnten, gehören sie zusammen wie die zwei Seiten einer Münze.
Seit dreißig Jahren schon kommt die Frau einmal in der Woche hierher. Nur, um sie zu besuchen, ihnen zuzuschauen und ihnen ganz nahe zu sein. Sie kennt jede einzelne von ihnen ganz genau. Einige sogar seit ihrer Geburt.
Da ist Maya – die Zurückhaltende. Sie hat keine Stoßzähne, wird nie welche bekommen. Beinahe zärtlich streicht ihr Rüssel immer wieder über die Rücken ihrer Schwestern. Und da gibt es Malayka – die Gemütliche. „Sie ist ein wenig träge. Gemütlich eben“, erzählt die Frau mir flüsternd. Oft stehe Malayka wie eine Grande Dame mit übereinandergeschlagen Hinterbeinen in der Sonne und döse mit geschlossenen Augen vor sich hin.
Aber die beeindruckendste von allen ist Ruaha. Sie trägt den Namen des großen, wilden Flusses im Herzen von Tansania, der einmal ihre Heimat gewesen ist. „Wissen Sie, sie ist die älteste Elefantenkuh der Welt. Sie ist 1951 geboren“, sagt die Alte und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Liebe spricht aus ihnen – während sie das große Wesen, ihre Freundin, beobachtet. Sie nicht aus den Augen lässt.
Ruaha steht ein wenig abseits, als würde sie die Stille der Einsamkeit lieben. Der einst mächtige Körper – im Laufe der vielen Jahre ist er eingefallen, in sich zusammengesunken. Die Haut ist porös wie die Rinde einer alten Eiche. Millionen Runzeln erzählen eine bewegte Geschichte. Ruaha – jeder Buchstabe des Namens hat eine Bedeutung. Ruaha – das ist die Mitfühlende, die Friedensstifterin, die Zuversichtliche.
Die Pfleger hinten am Eingang zum Elefantenhaus schmunzeln jedes Mal, wenn sie die kleine, weißhaarige Frau am Gatter stehen sehen. In ihrem Blick so viel Erwartung, Hingabe, Vorfreude. Manchmal lassen sie sie ins Gehege. Dann darf sie die Tiere füttern, darf sie berühren, sie streicheln. „Er fühlt sich so weich an, der Rüssel, wissen Sie? Und er ist so unglaublich sensibel. Eine Erdnuss könnte er mir aus der Hand nehmen und würde mich dabei nur kitzeln“, erzählt sie, kichert wie ein kleines Mädchen und ihre Augen leuchten. Sie streckt mir ihre Hand entgegen, gerade so, als würde sie mir ein paar Nüsse auf ihrem Handteller reichen wollen und lächelt mich an.
Doch mit einem Mal ist sie still. Ich schaue ihr ins Gesicht, das selbst so viele Geschichten zu erzählen hat. Aber sie nimmt mich nicht wahr. Wie in Trance beginnt sie sich zu wiegen – hin und her, hin und her, wie ein Grashalm im Wind. Ihre stargetrübten Augen sind geradewegs auf die große Kuh mit der borkigen, rauhen Haut gerichtet. Und Ruaha tut es ihr gleich. Sie lässt den eben aufgenommenen Ast fallen und trottet zum Gatter. Langsam und gemächlich nähert sie sich der Besucherin, nimmt sie in Augenschein, prüft ihre Gestalt. Und wie zum Gruß hebt die Greisin den Rüssel.
Aufgeregt wippt der große Kopf dabei auf und nieder. Und die kleine Frau, sie hebt ihren Arm und winkt. Es ist wie das Treffen zweier alter Tanten. Die beiden schauen sich an – voller Respekt. Und sie wiegen hin und her, im Einklang. Ganz leise, beginnt die alte Elefantendame mit den tausend und abertausend Falten zu grollen. Der Ton schwillt an, vibriert durch die Luft, durch meinen Körper hindurch, lässt ihn erzittern und bringt mein Herz zum Rasen. Tief hallt das Grollen über das ganze Gelände und entlädt sich schließlich in einem Gebrüll.
Die alte Frau lächelt mir zu und flüstert: „Sie mag Sie.“ Ich wage nicht, zu fragen, woher sie das weiß. Dabei kann ich es fühlen. Genauso wie sie. „Wissen Sie, ich liebe sie. Und ich spüre, dass sie das gleiche für mich empfindet. Sie ist die treueste Freundin, die ich je hatte – seit dreißig Jahren.“
Ich schaue die beiden an. Und in mir wird es warm. Dieser Augenblick mit diesem einzigartigen Wesen, das mich unverwandt anstarrt, als könne es meine Gedanken lesen – wie aus der Welt und der Zeit ausgekoppelt erscheint er mir. Minutenlang bleiben wir so stehen. Ich höre es wummern. Tief und volltönend zieht es mich hinein in die Welt dieser beiden Seelenverwandten.
Nur langsam finde ich zurück ins Hier und Jetzt. Ich reiche der kleinen Frau die Hand, bedanke mich. Ruaha hebt zum Abschied ihren Rüssel. Ich drehe mich um und gehe – zurück in meine eigene Welt. Bis heute träume ich von Ruaha, der Elefantenkuh, und der kleinen, weißhaarigen Frau. Denn selten hat eine Begegnung mein Herz so berührt wie dieses Geburtstagsgeschenk.
5. Juli 2007
Ruaha ist am 29. Juli 2010 gestorben
(Fundstück; für Rebecca und Jesko)
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