Ausgebüxt


Einmal schwimmender Genuss und die Erinnerung zum Mitnehmen © Rebecca Grob
Einmal schwimmender Genuss, bitte, und die Erinnerung zum Mitnehmen © Rebecca Grob
Leben…

Manchmal muss ich spüren, dass es noch in mir ist. Es mit jeder Faser aufsaugen, auskosten. Ganz und gar. Manchmal muss ich dafür ausbüxen, einfach mal verrückt sein, über meinen Schatten springen und ausflippen. Denn zu viel Vernunft, Grübelei und Konformität machen mich auf Dauer doch recht unleidlich und unausstehlich – nicht nur für mich selbst.

Das nur zum Einstieg. Denn irgendwie muss ich mir ja erklären, warum ich in diesem Moment genau hier sitze?! Nicht auf meiner geliebten Insel, sondern mitten in Berlin! Zu nachtschlafender Zeit!! Hinter dem Steuer meines Autos und tanze!!!

Sommerregen auf warmem Asphalt. Prasselnd wirft er mir seinen wunderbar erinnerungsschweren Geruch entgegen. Liebesbilder längst vergangener Nächte flirren imaginär vor meinen Augen. Rühren Herz und Seele an.

Die Hochhausschluchten, die mir nur ein paar Stunden zuvor in der untergehenden Sonne überwältigend urban, doch bedrückend und eng, weil so ungewohnt, erschienen, sind jetzt unzähligen Lichterkaskaden gewichen. Ein buntes Meer leuchtet und blinkt in die Einsamkeit der zubetonierten Nacht. Vor mir schießt in Lila gebadet der Fernsehturm in die Höhe. Ich verrenke mir an der Windschutzscheibe fast den Hals, seine blinkende Spitze im Tintenschwarz des Himmels auszumachen. Das glitzernde Rund gleicht einer schlafenden Diskokugel.

Doch ihre Musik spielt hier, bei mir. Lauryn Hill dröhnt aus meinen Boxen, wabert über die nasse Straße, über die teerschwarze Spree zum Fernsehturm hinauf. Oooh La La… Freiheit. Pulsiert durch jede meiner Adern. Freiheit! Ich grinse bis es weh tut. Und halte mir den gut gefüllten Bauch.

Sushi – satt. Und zufrieden bis in die kleinste Genusszelle bin ich. Allein für diese japanische Art der Gaumenverführung habe ich vor nicht einmal drei Stunden knapp 230 Kilometer auf den Tacho meines Autos gefahren. Eine verrückte Idee. Spontaner Blitzgedanke. Ausgesprochen und gewagt. Und 230 Kilometer lang um die Wette gelacht mit meiner zugverpassten Komplizin. Bahnhof Anklam war das vom Strand aus anvisierte Ziel. Denkste…

Einfach vorbei gerauscht. Berlin, du große Geliebte, du warst verlockender.

Und die Vernunft meldet sich: Bist du meschugge? Was zum Teufel machst du hier?

Leben, denke ich nur und lache. Der Wind raschelt in den Bäumen. Während die kleinen Holzschiffchen voll beladen mit Tang umhülltem Klebreis und rosarotem oder avocadogrünem Herzen ihre Runden um das bunte Aquarium der Theke ziehen. Allzeit bereit, dem Genusssüchtigen den Gaumen zu verzücken. I-KE-SU. Das Paradies für Liebhaber der Stäbchenküche. Dafür hat es sich gelohnt! Und für den Spaß. Und den Wasabi-Kick. Und das köstliche Amüsement.

Und für die Irrfahrt durch das nächtliche Berlin. Die beste Freundin im seligen Traumland abzuliefern. Eine Irrfahrt wie in der Odyssee von Homer. Zugegeben mit weniger Monstern. Doch vom Großstadtdschungel verschlungen, einmal quer durch den metropolen Verdauungstrakt bugsiert und nach gefühlten Stunden in der falschen Mozartstraße wieder ausgespuckt. Woher auch wissen, dass der Preußen Hauptstadt gleich mehrere der kopfsteingepflasterten Wege dem österreichischen Musikgenie geweiht hat. Das Navi eine Katastrophe und das Nervenkostüm auf vegetativ umgestellt. Ausgeliefert dem Wirrwarr vom Links und Rechts der Spuren. Dem BMW-Cabrio die Vorfahrt geschnitten. Wildes Gezeter. Das entschuldigende Lächeln mit großer Geste weggewischt. Chasing cars. Das Adrenalin pusht wie der Espresso zum Dessert. Und vorbei an der selben Häuserfront ein zweites Mal. Bis endlich das richtige Mozartstraßenschild Rettung verkündet.

Eine Oase aus Kaffee und Ruhe und Kühle. Denn in der Schwüle der Nacht – ich hatte mir den heißesten Tag des Jahres für mein Ausbüxen ausgesucht – war alles Denken, alles Heimweh erlahmt.

Doch dank reichlich dickflüssig nachtschwarzem Koffein erwacht meine Sehnsucht nach dem Zuhause wieder. Der Insel. Der Weite. Dem Meer. Alles, was hier rauscht, sind die Bäume im Vorgarten und in der Ferne die Großstadt, die niemals schläft. Der Blick gefangen von der nächsten Häuserfront.

Also raus aus der Enge, dem Lichtergeblinke, dem Beton, der hier bis in den Himmel wächst. Die Vorfreude nimmt zu mit jedem Kilometer, der sich zwischen die Stadt meiner Träume und das Fleckchen Sandstrand meines Herzens schiebt. Rot blinken die Ufos, die Neubrandenburg des Nachts heimsuchen und umkreisen mit ihren riesigen Rotorblättern. Ihr steter Morsecode suggeriert bleierne Müdigkeit. Aber der dumpfe Deep House-Beat hält mich wach. Stampft seine Bässe tief in meine Eingeweide. Pumpt das Blut rhythmisch durch meine pochenden Schläfen.

Und endlich…

Sand kribbelt unter meinen Füßen. Kühl und vertraut. Ich lasse mich fallen, fühle Heimat in mir. Und aus dem Meer, dem weiten, schiebt sich träge der gelbe Feuerball in den neuen Tag. Hüllt mich ein in warmes Licht. Zufriedenheit legt sich auf meine müde Seele. Und Glück.

Und die Einsicht, dass ich das Vernünftigsein wohl anderen überlassen muss. Denn in dieser Hinsicht bin ich offenbar völlig talentfrei.

2 Kommentare zu „Ausgebüxt

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