Bananenblättermorgen


Da gibt es diesen alten Mann in meiner Straße. Jeden Morgen geht er – gefesselt an seinen Rollator, der ihm quietschend Halt verspricht – mit seinem ebenso alten Hund unter meinem Fenster vorbei hinunter zum Strand. Bei jedem Wetter. Immer zur gleichen Zeit. Im immer gleichen Rhythmus. Langsam und geräuschvoll schlurfen seine Schritte durch die gelben Blätter des Herbstes. Bananenblätter, denke ich bei jedem Rascheln. Eine leise Erinnerung legt sich wie Tau auf diesen Morgen. Und mit ihr ein Lächeln.

Der alte Mann schnauft und stöhnt und müht sich, sein Vehikel über die Düne zu hieven. Und sein kurzbeiniger Hund tut es ihm gleich. Keucht nicht weniger an der locker auf dem Boden schleifenden Leine. Trottet müde schwankend wie ein kleines Boot neben seinem Herrchen einher.

Am Ende der Holzbohlen bleiben der Mann und sein Hund stehen. Verharren regungslos. Als begrüßten sie den stillen Strand. Atmeten die Ruhe tief in sich ein. Menschenleer sind die sanften Sandmännchenstrandsandwellen um diese Zeit. Nur die Möwen bedienen sich schon eifrig am vergoldeten Büfett. „Im Sommer gehört die Insel den Urlaubern. Aber im Herbst haben die Möwen Hochsaison“, sagte einmal jemand zu mir. Unzählige dieser Blütenweißgewandeten mit dem knalligen Lippenstiftfleck auf den gespitzten Mündern haben sich für ein Romantikfrühstück bei Sonnenaufgang eingefunden. Starren stumm auf den Horizont.

Heilsam einsam. Stehe ich und bin. Traumschwanger tragen die Wellen Wunderwelten wärmend durch meinen Geist. In diesem Moment, in dem die Sonne mit ihrem frisch polierten Schild zitternd aus ihrem Morgenbad entsteigt, ist die Welt so pur, so unverbraucht, dass ihre Klarheit mir wie Nadeln in die noch schlaftrunkenen Augen sticht.

Die Sekunden und Minuten unberührt. Unbefleckt. Gerade erst angebrochen. Aufgebrochen in diesen neuen Tag. Alles scheint möglich. Die Welt ist nicht genug. Heute will ich wagen, was sonst meinen Tatendrang lähmt. Mir mein Herz an anderen Tagen zu einem Haken schlagenden Angsthasen werden lässt. Morgenstund macht übernächtigt umso übermütiger.

Nur ein paar Meter weiter, mit Blick aus einer anderen Welt, steht der alte Mann im Morgenlicht. Wartet. Er schließt seine Augen. Schaut lieber nach innen. Erinnert sich. An Tage, an denen sie – goldgelockt wie die Sonne und schüchtern wie der schwindende Mond – neben ihm auf den neuen Tag gewartet hatte. Sie hatte ihn stets ausgeschimpft. Hatte gezetert, er sei viel zu schnell, könne das Leben in seinem Eilschritt gar nicht recht genießen. „Dein Gehetze wird dich noch eines Tages umbringen“, hatte sie geglaubt. Doch der Glaube ist nicht alles. Versetzt nun mal keine Berge. Trügt aber gern. Und wir lassen uns nur zu gern betrügen. Denn wie leicht wird unser allzu leichtgläubiges Herz von der Hoffnung – des Glaubens kleiner Schwester – im Sturm erobert?!

Nun steht er allein mit seinem Hund und schaut über den gleißenden Spiegel der See. So hatte das nicht sein sollen. Er wollte sie auf ihrem letzten Gang nicht allein gehen lassen. Sie nicht aus seiner liebenden Hand frei geben. Aber es hatte alles nichts gebracht. Sein Kampf nicht. Und auch seine Liebe nicht. Sie war gegangen. Unwiederbringlich. Und hatte ihn zurückgelassen.

Mit ihr hatte er sich stark gefühlt. Lebendig. Und ganz. Er sieht in die Sonne. Ein einsames Schiff inmitten eines riesigen Ozeans. Ohne Kompass. Ohne Hafen. Er weiß nicht, wohin er gehört. Die Straße, die er jeden Tag geht, ist ihm fremd geworden. Einzig die Bananenblätter entlocken ihm ein Schmunzeln. Sie hatte ihn geliebt. Den Herbst – mit seinen Farben, seinen Geräuschen, seinem morgenkühlen Duft. Und während er mit seinem Hund durch die Bananenblätter raschelt, wirken seine Schritte mit einem Mal ein wenig beschwingter, als tanze er durch diesen Morgen.

Zurück in meiner Straße kreuzen sich unsere Wege. Sein Stoppelbartgesicht schenkt mir ein verschmitztes Jungenlachen. Und die Bananenblättermorgenluft webt flimmernd ihre Farben in meinen Tag.

Banana Leaves © Sandra Grüning
Banana Leaves © Sandra Grüning

4 Kommentare zu „Bananenblättermorgen

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  1. Liebe Sandra, herzlich willkommen. Bin hier ebenso erfreut wie du – wenn ich es hoffen darf – bei mir. Wie die Wellen des einen Beitrags – dieses Meer sah aus wie eins, das ich gut kenne… welches ist es? – durch das Hintergrundbild schimmerten, wie dann der Text mit dem Whisky ruhig daherglitzerte…schön!
    Aber was ich hier eigentlich schreiben wollte: Bananengelb fiel mir diesen Herbst auch ein, um dieses einzige Gelb zu bezeichnen.
    Herzlich
    Nine

    1. Danke für Deine Worte. Ja, es gibt dieses eine Gelb, das warm und golden bis auf den Grund der Seele sinkt. Und das Meer? Es ist in mir und um mich. Ich brauche seine Weite, um anzukommen. Es könnte jedes Meer sein. Doch meines ist die Ostsee. Herzlich Sandra

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