
„This is the new shit, stand up and admit…“ Marilyn Manson. Schreit. Kreischt. Tobt. So laut, dass mir die Ohren durch die Kopfhörer bluten. Mein Hirn weich wird.
An Tagen wie diesen, an denen das Leben mir Erlebnisse eimerweise überkübelt und ich mich nicht mehr spüren, Wichtiges nicht mehr von Unwichtigem unterscheiden kann, bringt nur Ohrenbetäubendes meinen ruhelosen Geist, mein wild galoppierendes Herz zum Schweigen.
Mein Blick reicht endlos in die Weite. Schaut nichts als Meer, Meer und noch mehr Meer. Wellen werfen stumm weiße Gischt auf den Sand. Die Welt ist leer gefegt an diesem Sommerabend. Das ganze Stranduniversum nur für mich.
Während hinter mir der Blutmond riesig aus dem Meer aufsteigt, schreite ich in großen Schritten in die letzten Flammen der Sonne. Der Kopf ausgeschaltet. Die Gedanken übertönt von den Missklängen der Metallsaiten, die durch die Korridore meiner Seele hallen.
Erst durch Mansons pornografische Abartigkeiten legt sich Stille auf mich wie eine dunkle, wohltuende Decke. Nichts ist wirklich wichtig. In diesem Moment. Nur das pure Empfinden. Das pure Ich.
Und die Stille in mir weckt Bilder, Eindrücke, Erinnerungen – längst vergangener Stunden. Lässt Erlebtes wie Blasen an die Oberfläche steigen. Legt sich ordnend in Wohlfühlwellen sanft unter meine Haut.
Die Bilder entführen mich an einen fernen Ort. Verträumt wie das Paradies. Friedvoll. Leicht. Und ruhig. Und mitten darin das Lächeln dieser Frau. Ich schaue in tiefblaue Augenseen. Nehme wahr, wie sie über mein Gesicht wandern. Suchend. Sehe Zögern darin. Neugier. Fühle die Wärme ihrer Hand, mit der sie sich und ihre Welt in die meine gibt. „Corinna“, sagt sie. Ohne Nachname. Ohne das auf Distanz haltende Sie. Sie hat viele Fragen. Will alles wissen. Und ich lasse mich auf ihr Spiel ein. Auf den Kuss ihrer Muse. In Stein gemeißelt. Zweihundert Jahre alt. Ein Erbstück. Schmuckstück dieses Wundergartens, in dem ich mit ihr sitze und ihren Worten lausche. Sie tragen meine Fantasie auf Flügeln. Entführen in das Blau dieses Tages.
Ihren Vater, ich müsse unbedingt ihren Vater kennen lernen, sagt sie. Sie besteht darauf. Duldet keinen Widerspruch. Und dann stehe ich vor ihm. Vor ihrem Vater. Sehe den Stolz in seinem Gesicht, als er mich durch sein Haus führt – angefüllt bis unter die Decke mit Malereien. Ich lausche gebannt seinen Geschichten. Wie seine hübschen Freundinnen früher stets vom großen Fotografen Günter Rössler und seiner Mutter, der Malerin, für die Kunst in Beschlag genommen wurden. Er zeigt mir ihre Bilder. Große Formate. Große Gesichter. Große Frauen. Anziehende Frauen. Fotopapier contra Leinwand. Ihre eingefangenen Schönheiten so ähnlich, so verwandt und doch so verschieden. Seine Freundinnen waren das, schwärmt er noch heute. Sie hingen in allen Galerien. Und so manchen Schlafzimmern. Wurden bewundert, bestaunt, beäugt.
Und dann sind da wieder ihre Augen. Corinnas Augen. Die mich beäugen. Sie ruhen auf mir. Erforschen mich unentwegt. Lächeln. Freuen sich über mein Staunen. Und es ist ein so wunderbarer Sommersonnentag in diesem Paradies.
Und Marilyn schreit: „This is the new shit, stand up and admit. So, let us entertain you…“ Seine Stimme holt mich zurück aus meiner Traumwelt. Zurück an den Strand. Zurück in diesen Sommertags-Sonnenuntergang.
Ein Lachen legt sich in meine Seele. Während ich weiter wandere. Meine Zehen tief in den warmen Strandsand grabe. Und trotz der Einsamkeit inmitten dieses Meeres aus Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit um mich herum, bin ich für den Bruchteil eines Augenblicks glücklich. Denn es sind solche Begegnungen, Momente, wie die in jenem Garten, die mich erfüllen. Anfüllen mit Leidenschaft, mit Leben.
Leichtigkeit beschwingt meinen Gang. Die Welt gehört mir. Mit allem, was darin ist. Den Wellen. Dem Kreischen der Möwen. Dem Sand unter meinen Füßen. Dem Lächeln von Corinnas Augen.
Und ich schreite mitten hinein in die untergehende Sonne. Übergebe Marilyn Manson der Dunkelheit hinter mir. Atme die Bilder von diesem so wunderbaren Sommersonnentag im Paradies tief in mich ein. Bewahre das Gesagte wie einen Schatz in meinem Herzen.
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