
Pünktlich um halb Zehn stehe ich auf der grünen Wiese. Das Haga Forum ruft. Fünf Kilometer mitten durch den Stockholmer Haga Park. Es ist mausgrau heute Morgen. Mit meinem grünen Usedomer Laufmützen-Shirt bin ich der Farbtupfer in der Hauptstadt-Herbstlandschaft.
Unser Instruktor Hugh – ein sympathischer Ire – klärt die Debütanten über den Rundkurs auf. Von den knapp 60 Laufverrückten sind etwa die Hälfte nicht aus Stockholm und das erste Mal dabei. Ich fühle mich gleich nicht mehr ganz so einsam unter Südafrikanern, Australiern, Italiener…

Der Stockholmer Parkrun hat’s in sich. Es geht ständig rauf und runter. Nach anderthalb Kilometern fühlen sich meine Beine an wie nach einem Halbmarathon. Und die Schweden sind schnell. Verdammt schnell! Da will ich natürlich nicht hinterher hinken, strenge mich mächtig an und werde mit einem grandiosen Ausblick auf einen See von oben belohnt.
Mit Linda und Paul aus Südafrika nehme ich die Metro zurück in die Altstadt. Sie erzählen mir von sich und ihren Plänen, und dass sie sich auf den ersten Schnee freuen. Den ersten in ihrem Leben. Läufer sind einfach wunderbare Menschen. Egal, wo auf der Welt man auf sie trifft. Sie alle haben eine gemeinsame Leidenschaft, über die man sich austauschen und in Kontakt kommen kann. Ich erfahre von den Beiden sogar, dass es in Deutschland demnächst ebenfalls Parkruns geben wird.

In einem kleinen Café, dem Kaffekoppen, der großen Schwester vom Chokladkoppen, rauschen sie an mir vorbei, die Bilder der letzten zwei Tage. Und der süße Service von gestern Abend ganz plötzlich auch. Das freut mich besonders. Und sie offenbar auch. Sie begrüßt mich mit einem strahlenden Hej. Ich bin hingerissen. Der Cappuccino schmeckt gleich nochmal so gut. Erst recht, da das schwedische Fräulein von nebenan wieder und wieder an meinem Tisch vorbeikommt.

Die beiden Häuser vom Kaffekoppen und vom Chokladkoppen scheinen ein äußerst gefragtes Fotomotiv für Stockholm-Besucher zu sein. Ganz besonders bei Frauen- und Männerpärchen. Durch die Fensterscheibe der Tür sehe ich, wie sich eines ums andere küssend davor ablichten lässt. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd darüber, als das schwedische Fräulein aus dem Chokladkoppen wieder zur Tür hereinkommt und mich wie ein Auto mit Fernlicht anstrahlt.
„Hej!“
„Hej.“
„Hej hej!“
Ist das schon eine Unterhaltung? Viel mehr Schwedisch kann ich nämlich leider nicht.
Schweren Herzens erhebe ich mich irgendwann. Der köstliche Cappuccino ist längst ausgetrunken. Es hat aufgehört zu regnen. Und auf mich wartet die Fotografiska, eines der weltweit größten Fotomuseen mit seinen belichteten Wunderwerken. Doch vorher laufe ich besagter Hej-Frau noch einmal in die Arme. Während sie bis über beide Ohren grinst, schmelze ich dahin. Stockholm gefällt mir immer mehr.

Die Fotografiska ist ein Museum, das überquillt von Leben. Die Schweden lieben es. Nicht nur wegen der großartigen Foto-Schauen. Die sind allersehenswert, wenn auch nicht gerade leichte Kost. Vor allem die Themen Krieg und Armut sind omnipräsent. Manche Bilder gehen mir so nahe, dass mir unwillkürlich und unerwartet die Tränen in die Augen schießen. Wie können Menschen derart Grausames ertragen – ohne daran zu zerbrechen?
Oben unter dem Dach angekommen, wünsche ich mich zum ersten Mal in diesen Tagen nach Hause. Nach diesen Bilderfluten bräuchte ich für einen Moment lang einsame Stille. Doch das Museums-Café gleicht einem Bienenstock. Es brummt. Ist Treffpunkt, Entspannungsoase und coole Bar. Ich sitze einfach nur da und schaue und komme mir vor wie das Auge in einem Hurrikan.
Ich beobachte die Menschen um mich und denke mir Geschichten über sie aus, male in schillerndsten Farben, was sie für Leben haben könnten, wie sie wohl eingerichtet sind, wie sie lieben, leben, genießen und was sie im Innersten berührt.
Was mir auffällt: Die Schweden lieben es digital. Ob Handy-Metroticket oder Kreditkartenzahlung – alles ist digital. Im Gegensatz dazu tragen viele von ihnen Bücher mit sich herum. Echte Bücher, keine Kindle! Und in denen lesen sie an jeder Ecke. Ist mir sehr sympathisch. Ich habe Büchersucht. Was daheim auf meiner Insel nicht viele verstehen.

Das absolute Highlight des Abends ist der butterzarte Genuss eines Rehrückens bei Eriks Gondolen hoch über der erleuchteten Stadt. Meinem lieben Henning sei Dank, dass er mir diesen Genusstempel empfohlen hat. Normalerweise bekommt man dort nur einen Tisch auf Vorbestellung. Ich werfe alles, was ich an Charme habe in diese eine Frage, lächle die Restaurantleiterin mit meinem herzerweichendsten Augenaufschlag an… und bekomme einen Tisch. Ich schwebe an den erstaunt Wartenden vorbei und genieße die Lichter der Stadt.
Rehrücken, smoked Selleriecreme, Pilze und eine reduzierte, ultraleckre Sauce – ich weiß, das Eriks Gondolen ist bekannt für seine Hummerspezialitäten, doch kann ich dem so gar nichts abgewinnen, dafür Wild umso mehr. Und dieser Rehrücken ist die Verführung pur!
Das große Finale: Ein feiner Lagavulin in der Hjärtat på Torget – wieder unten auf der Erde in Gamla Stan. Und trotzdem bin ich im 7. Himmel. Schon wieder!

In Deutschland sind Gay-Cafés oder Gay-Bars meist schmuddelig, abgelegen und sehr unhip. Oder absolut ausgrenzend und abgeschottet. Eine eigene, kleine Welt in der Großen. Szene eben. Subkultur statt Popkultur. In Stockholm ist das anders. Hier gehört alles, was in Deutschland anders ist, einfach dazu, ist ausschlaggebend, mischt mit. Die Gay-Bars und -Cafés sind mondän, schick, angesagt, antik, kuschelig, mittendrin, überlaufen und der Anlaufpunkt schlechthin für jeden – diese Stadt ist einfach großartig!

Schade, dass ich nur noch einen Tag zum Genießen habe, denke ich beim Nach-Hause-Schlendern durch die engen Gassen der Gamla Stan.
Nein! Falsch! Ich habe noch einen ganzen Tag!
God natt sov gott och dröm sött.
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